Mittwoch, Februar 17, 2016

FLASCHENPOST AM STRASSENRAND

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FLASCHENPOST
AM STRASSENRAND
zu imaginieren als eine ebensolche, 
der man just in diesem Moment nachstehende Schrift entnimmt


Vermutlich wundern Sie sich ein wenig.
Mitten in der Stadt ist schließlich nicht der Ort, wo man gewöhnlich eine Flaschenpost findet. Ich weiß natürlich nicht wo diese hier gelandet ist, gehe aber stark davon aus, dass es eine der kläglichen Grünflächen gewesen sein muss. Sonst hätte ich es wieder einmal klirren hören. Da unten gibt es mehr Asphalt als Grün. Weshalb man dort auch nur selten eine Flaschenpost findet. Obwohl all die schimmernden Scherbenhaufen am Straßenrand vermuten lassen, dass immer mal wieder jemand eine zu schicken versucht. Wobei man kaum Briefe in den Bierlachen zwischen den Scherben findet. Sei es, weil der Absender sie zu schreiben versäumt oder der Wind sie davongetragen hat. Was das Ganze jedoch, wenn man jedes dieser traurigen Splitterhäufchen als einen gescheiterten Kontaktaufnahmeversuch betrachtet, nicht weniger tragisch macht.
Wenn Sie sich also über diese Flaschenpost wundern, tun Sie das keinesfalls zurecht. Denn die Stadt, die eigene Wohnung, irgendwo zwischen all diesen Menschen, die man erst bemerkt, wenn sie vor einem die Fahrbahn oder die Supermarktkasse blockieren, ist der beste Ort, um gestrandet, verloren und allein zu sein. Womöglich noch mit einem Partner. Gemeinsam gestrandet, verloren und allein.
Diese Gedanken kamen mir, als ich vor einiger Zeit aus meinem Fenster blickte. Und dort unten sah ich sie. Alle. Wie sie in jenem grauen Ozean dahintrieben, einer Strömung unterworfen, die jeden Tag - außer vielleicht am Wochenende – die immergleichen Muster beschreibt.
Großstadttreibgut. Den Asphaltgezeiten unterworfen. Mitgerissen. Morgens hierhin und abends zurück. Menschen, die sich wacker über Wasser halten, weil man sie das Schwimmen lehrte. Von einer einsamen Insel zur anderen. Von einem Haus, dessen Bewohner man nur vom Klingelschild kennt, an einen Arbeitsplatz, wo jeder mit jedem ersetzbar ist und von dort aus in die kleine Kneipe an der Ecke, wo Schiffbrüchige seit Menschengedenken allabendlich ihre Erfahrungen austauschen, bevor jeder auf sein eigenes einsames Eiland zurückkehrt.
Und während ich dort hinuntersah, entsann ich mich der Gespräche, die ich hundert Mal geführt hatte. Der Zeiten, die ich, nur um nicht allein zu sein, mit irgend jemandem unterwegs gewesen war. Der Kinoabende mit Filmen, an die ich mich tags darauf nicht mehr erinnerte und jener wilden Nächte, in denen ich mich auf fremde Inseln verirrte und die schließlich weder etwas bedeuteten noch etwas änderten. All jener Dinge eben, wie unwissend Gestrandete sie unternehmen, um sich über ihr Schicksal hinwegzutäuschen. In der irrigen Annahme, dass es sie weniger weniger schiffbrüchig macht, wenn sie in der Lage sind, mal eben in den Supermarkt, ins Kino oder das Stadion hinüberzuschwimmen.
Unsere einsamen Inseln vermögen wir dabei freilich recht angenehm zu gestalten. Die einen von uns landen auf grösseren, die nächsten auf kleineren. Aber so lange es dort Strom, Wasser, Fern- sehen und W-Lan gibt, wird kaum einer sich beschweren, wenn er morgens mit dem Strom schwimmen muss, um abends wieder am heimischen Strand angeschwemmt zu werden.
Wahrscheinlich wundern Sie sich noch immer.
Weshalb ich diese Nachricht überhaupt schreibe. Ohne zu wissen, wen sie erreicht oder ob sie nicht womöglich doch als schillernder Scherbenhaufen zwischen den Gestaden endet.
Ich will es Ihnen verraten: Weil ich damals am Fenster stehen blieb. Die Flut kommen und gehen sah. Wieder und wieder.
Weil ich zu den fremden Appartmentinseln meiner Nachbarn hinüberblinzelte, wo all die Namen von den Klingelschildern sich duschten, rasierten, verschliefen oder zu lieben versuchten. Ich beobachtete sie, wie sie dort vor ihren Flachbildschirmen, Tablet-Computern, neben ihresgleichen oder hinter ihrer Zeitung saßen und sich verbissen zu vergnügen versuchten.
Und in jedem von ihnen erkannte ich mich selbst.
Im Haus gegenüber gibt es diesen kleinen dicken Jungen mit seiner XBox, dem seine Mutter, damit er nicht verhungert, jeden Tag eine Juniortüte ins Zimmer wirft. Ich hab ihn noch nie mit anderen Kindern spielen sehen. Vielleicht sollte ich ihn entführen und ihm die Regeln der Zivilisation nahebringen. So, wie Robinson Crusoe es einst mit seinem Kannibalen getan hat ...
Aber solche Gedanken kommen einem wohl, wenn man zu lange aus dem Fenster sieht.
Vielleicht sollte ich Ihnen zunächst einmal etwas über mich erzählen: Ich komme aus der Werbung. Meine Aufgabe ist es, Ihnen Dinge zu verkaufen, die sie nicht brauchen. Aber das wird mit jedem Tag schwerer. Denn die Konkurrenz wächst. Ganz zu schweigen vom Angebot. Und natürlich der Tatsache, dass heutzutage jeder Eskimo längst auch schon einen zweiten Kühlschrank besitzt.
“Wie viele Dinge es doch gibt, die ich nicht brauche.” fiel übrigens - der kläglichen Produktpalette des antiken Griechenlands zum Trotz - bereits dem alten Sokrates auf. Obwohl er vemutlich nicht mal diese Schublade voller Kabel besaß, von denen er nicht mehr wusste, wofür sie überhaupt da waren. Oder jene andere mit Gebrauchsanweisungen von Geräten, die er längst nicht mehr besaß.
Aber ich habe meine Arbeit als Texter gut gemacht. So gut, dass Sie sich vielleicht sogar an meinen wohl bekanntesten Slogan erinnern, der vor noch gar nicht allzu langer Zeit über motivierten Fußballmannschaften, glücklichen Familien, erfolgreichen Brokern und kauzigen Individualisten auf überdimensionierten Plakaten prangte: ”Woran glaubst du?”. Eine landesweite Kampagne für irgend eine Bank, die am Ende gerettet werden musste. Werbung für Geld, wobei niemanden je die Antwort auf die Frage interessiert hat.
Mit dem richtigen Slogan lassen sich heutzutage Ohrringe für Hunde, kosher Bacon und Talismane gegen Aberglauben verkaufen. Mit diesem haben wir absurderweise Geld verkauft. Und ich habe genug damit verdient, dass die Wohnung in der ich gestrandet bin, mir inzwischen gehört und mein Flatscreen wahrscheinlich größer als Ihrer ist. Das Schlimme ist, dass es keine Rolle spielt. Dass es kein Problem wäre, mir einen größeren noch zuzulegen, sobald es mir gelingt, irgend einem Eskimo noch einen dritten Kühlschrank zu verkaufen. Dass irgend jemand es sowieso versuchen und es ihm vermutlich sogar gelingen wird.
Das Ganze ist eine Art Wettlauf, bei dem es um Mode, Prestige, digitalen Schnick-Schnack und noch einiges mehr geht. Mal liegt man vorn, mal fällt man zurück. Entweder man ist beeindruckt oder man will beeindrucken und bemerkt inmitten all des Überholens und Überholtwerdens nicht, was dieses Rennen um Gigabyte, PS, Megapixel und Körbchengrößen so absurd macht: nämlich, dass es keine Ziellinie gibt ...
Nachdem ich länger dort rausgeschaut hatte, habe ich mich übrigens wirklich gefragt, woran ich glaube. Zunächst habe ich es mit den üblichen Antworten versucht. Zum Beispiel mit Familie, die ich der Karriere wegen nie gehabt habe. Und dann eben mit jener Karriere, wie sie ein jüngerer, besserer oder günstigerer Texter jederzeit ins Trudeln bringen kann. Ich habe mich sogar gefragt, ob ich an mich glaube, was mir zwar durchaus legitim, aber im kosmischen Zusammenhang doch eher belanglos schien. Inzwischen kann ich jedenfalls beängstigend vieles benennen, an das ich nicht mehr glaube.
Ich habe wirklich lange nachgedacht. Auf Papier. Wort für Wort. Seit ich mich hier auf meiner Insel verschanzt habe, werfe ich jeden Tag eine Flaschenpost vom Balkon und hoffe, dass sie den Asphalt verfehlt und irgendwo ankommt.
Schlussendlich hat es fast fünfzig Briefe in Flaschen an Fremde gebraucht, bis ich eine Antwort fand: ich glaube an nicht mehr als eine Sache. Etwas, das sich aus allem was ich je erlebt, gesehen und verstanden habe, ergibt: Aus Krieg und Frieden, dem dicken Jungen mit seiner XBox, meinem Flatscreen und ihrem Tablet-Computer. Denn all diesen Dingen liegt ein einziger Umstand zugrunde: Die Fähigkeit des Menschen, Dingen Bedeutung zu geben. Frei wählen zu können, was er für bedeutsam erachtet. Und im Gegenzug auch, was nicht. Dann gibt es da freilich noch jene Dinge, von denen andere wünschen, dass man ihnen Bedeutung gibt. Da sind Freunde oder Partner, die gern Bedeutung hätten, oder auch die Werbung, die uns geradezu anbettelt, beutellosen Staubsaugern, parfümierten Müllbeuteln oder was auch immer einen Platz in unserem Leben zu geben. Und zuletzt gibt es noch jene Ereignisse, die vermeintlich so bedeutungsvoll sind, dass sie uns völlig aus der Bahn werfen können. Zumindest wenn wir es zulassen. Denn obwohl wir ohne Zweifel ausnahmslos alle sterben werden, ist es doch an uns, unserem Leben eine größere Bedeutung als unserem Tod zu geben ...
Vor diesem Hintergrund habe ich begonnen, meine Aufmerksamkeit anders zu verteilen. Sie gewissen Dingen, die mir vor fünfzig Flaschen noch vollkommen notwendig schienen, sogar ganz zu entziehen.
Ich achte nicht mehr auf Likes und poste diesen Status - auch auf die Gefahr hin, dass niemand ihn liest - direkt auf die Straße. Denn ich glaube daran, dass Menschen Dingen Bedeutung geben können. Und das ist vielleicht sogar alles, was sie können. Mehr aber braucht es auch nicht.
Sie wundern sich womöglich noch immer.
Und mir ist natürlich bewusst, dass ich keine Ahnung von Ihrem Leben habe, nicht weiß, wer Sie sind, was Ihnen wichtig ist oder womit Sie zu kämpfen haben. Ich kenne Sie nicht und kann Ihnen wahrscheinlich auch keine sinnvollen Ratschläge erteilen.
Aber ich möchte Sie dennoch um eines bitten, egal wo und auf welcher Art von Insel Sie auch gestrandet sein mögen:
Geben Sie Dingen Bedeutung.
Damit nicht andere es für Sie tun.

Schiffbrüchigst 
und mit den besten Wünschen,
A.
 
 
 
 


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